Dienstag, 15. August 2017

"Sterben" von Corey Taylor - ein Buchtipp für alle Menschen, nicht alleine für die tatsächlich Sterbenden (eine Besprechung und eine Auseinandersetzung)

Osnabrück - Darf einen ein Buch über etwas so Existenzielles wie das Sterben beglücken? Darf es entzücken? Wenn es so feingeschliffene Gedanken, so wertvolle Formulierungen und so scheinbar banale, aber wesentliche Erkenntnisse enthält wie dieses, darf es das. Jedoch ist "Sterben" von der australischen Autorin Corey Taylor im Wesentlichen eine Familiengeschichte - keine Reise durch Sterbeprozesse. Das muss wissen, wer sich drauf einlassen will. Lernen lässt sich aber dennoch eine Menge.

In nur wenigen Wochen verfasste die australische Schriftstellerin Cory Taylor 2015 dieses Buch, das - wie glücklich für sie - noch kurz vor ihrem Tod erschien. Ihr Krankheitsprozess ist beim Schreiben schon weit fortgeschritten, ihre Lebenswelt ist auf zwei Zimmer zusammengeschrumpft: Das Schlafzimmer mit dem Bett darin und das Wohnzimmer mit ihrem Computer. Mehr Wege schafft sie nicht. Dort sitzt sie und schreibt - erzählt aus ihrem Leben, verbindet kurze Anekdoten und Zusammenhänge. Aber immer wieder, meistens dann, wenn der Leser es gar nicht erwartet, begibt sie sich in kurzen Glücksmomenten auf eine philosophische Metaebene, reflektiert über den Prozess des Sterbens an sich und darüber, wie alles zusammenhängt. Dies geschieht in nur wenigen Zeilen mit wenigen Worten. Aber die haben es in sich. Und auch das Durchlesen der Familiengeschichten ist unbedingt lohnend - weil sich das bemerkenswerte Ende des Buches sonst nicht vollends verstehen lässt. Corey Taylor hat indes eine Form gefunden, ihr eigenes Ende zu beschreiben, die den Leser gerade wegen ihrer artifiziellen Distanzierung berührt und bewegt. 

Lesenswert - oder hörenswert: "Sterben" von Corey Taylor ist ein bemerkenswertes Buch bzw. Hörbuch.   (Thomas-Achenbach-Foto)

»Wenn wir selbst an unser Ende gelangen, können wir auf einen solch lebhaften Rückblick und eine solch klare Vorausschau nur hoffen.« Das sagte der britische Autor Julian Barnes über dieses Buch. Barnes, der selbst seine Frau verloren und der seinem eigenen Leidensprozess in dem auf diesem Blog bereits vorgestellten Werk "Lebensstufen" eine lesenswerte Dokumentation gewidmet hat. Corey Taylor ist weder gläubig noch christlich. Auch ihr Sterbeprozess hat daran nichts geändert, obwohl sie Fragen dieser Art durchaus innerlich diskutiert. Was ihre Gedanken so lesenswert macht, ist die unbedingt dankbare und anerkennende Art und Weise, wie sie ihr Leben reflektiert - und auch solche Fragen wie "Hätte ich ein anderes Leben führen können/sollen/müssen" dabei nicht außer Acht lässt. Aus dieser Art und Weise, sein Leben zu reflektieren, lässt sich viel lernen.


Auch das ist Sterben: Stöbern in der eigenen Biograhpie


Denn das Durchstöbern der eigenen Biographie am Ende des Lebens, das Suchen nach Spuren und Wegen, vor allem aber die Suche nach der eigenen Identität ist etwas, das uns Halt geben kann. Den Stift (oder den Laptop) nehmen und losschreiben, sich fragen, wo man eigentlich herkommt und was einen eigentlich ausmacht - das ist die Reise, auf die sich Corey Tayler begeben hat. Um am Ende zu erstaunlichen Erkenntnissen zu gelangen: "All unsere Erfahrungen existieren gleichzeitig, sind uns ins Fleisch eingebrannt", schreibt sie. So ist sie immer beides: Das kleine Mädchen und die sterbende Frau. Und daran ist nichts Neues, denn: "Wir sterben schon von dem Augenblick an, in dem wir geboren werden, soviel weiß ich jetzt". Immer mal wieder taucht Corey Taylor mit ihren Lesern in diese überraschende Tiefe ein, aber nur als kurze Stippvisite. Denn im Grunde ist "Sterben" ein Buch über eine nicht besonders heile und nicht besonders stabile Familie. Oder anders gesagt:


Schon beim Hören von "Sterben" von Corey Tayler habe ich gemerkt, dass ich ein paar der geäußerten Gedanken unterstreichen möchte. Weil mich das Hörbuch so fesselte, habe ich das gedruckte Buch noch dazugekauft.   (Thomas-Achenbach-Foto) 

Eine Geschichte über eine Herkunft. Gleichzeitig ist es der Versuch, der Ohnmacht ein kleines Schnippchen zu schlagen, wenigstens einen kleinen Teil an Kontrolle auch nach dem Sterben zu behalten: "Erzähle Deine Geschichte selbst, oder jemand anderes wird das tun". Das ist das Motto. Nun, es ist ihr gelungen. Übrigens gibt es "Sterben" auch als von der Schauspielerin Marlen Diekhoff eindrucksvoll gelesenes Hörbuch, das ich sehr empfehlen kann und das mir manche Autofahrt zur Arbeit und zurück zu einem Weg in etwas Tieferes hat werden lassen (weil mich das Hörbuch so fesselte, habe ich mir das gedruckte Buch ebenfalls noch nachgekauft). Denn die zum Zeitpunkt der Aufnahme immerhin auch schon 78 Jahre alte Marlen Diekhoff ist mit ihrer reifen und irgendwie nach Altersweisheit klingenden Stimme die perfekte Besetzung für diese Textzeilen. Noch eine Randbemerkung: Sich in seinem eigenen Sterbeprozess schreibend mit seinem eigenen Leben auseinanderzusetzen, kann etwas sehr Hilfreiches sein. Nicht umsonst gibt es derzeit mehrere Menschen, die dabei ihre Hilfe anbieten. Auch insofern setzt "Sterben" einen wertvollen Impuls.

Übrigens: Noch ein lesenswertes Buch, das viele weitere Tipps enthält und im lockeren Tonfall existenzielle Fragen rund um den Tod behandelt, ist "The End" von Eric Wrede, hier geht es zu einer Besprechung. 


Transparenzhinweis: Ich hatte mir Buch und Hörbuch selbst gekauft, keine Zusendung von Rezensionsexemplaren

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

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