Samstag, 1. April 2017

Draußen alles so bunt und so schön und innendrin alles so traurig und leer.... Darf ich denn im Frühling traurig sein? Ein Beitrag aus dem "Trauerratgeber" der Neuen Osnabrücker Zeitung ("Rat und Hilfe im Trauerfall")

Osnabrück - Einmal im Jahr, immer Ende März/Anfang April, erscheint in der Neuen Osnabrücker Zeitung eine Beilage mit dem Titel "Rat und Hilfe im Trauerfall". Ich habe die Ehre, dort auch mitarbeiten und Artikel veröffentlichen zu dürfen. In diesem Jahr bin ich von dem verantwortlichen Redakteur sogar gefragt worden, ob ich nicht auch das Geleitwort auf der Seite 2 beisteuern konnte, weil andere dafür vorgesehene Autoren abspringen mussten. Was natürlich eine besondere Auszeichnung ist. Große Freude. Doch dann plötzlich Gedankenleere. Über welches Thema sollte ich schreiben? Auweia...

Was mir immer hilft, wenn ich beim Schreiben mal nicht weiterkomme, ist der Weg nach draußen. Beim Zu-Fuß-Gehen an der frischen Luft finden die Gedankenspiralen manchmal Anschluss an Synapsen, an denen sie vorher noch nicht andocken wollten. Das habe ich oft erfahren. Wie passend, dass wir als Familie derzeit in einer Übergangsphase auf unser zweites Auto verzichtet haben und ich also zum vielen Zu-Fuß-Gehen quasi gezwungen bin. Beim Blick auf die gelben Narzissen in der Sonne schälte sich ein mögliches Thema heraus: Darf ich im Frühling überhaupt traurig sein? Tatsächlich ein Thema, das Menschen in einer Verlustkrise beschäftigt. Das Feedback des verantwortlichen Redakteurs auf mein "Zum Geleit" im Wortlaut: "Speziell, aber sehr lesenswert". Eine interessante Rückmeldung, die ich zum Anlass nehme, den Text auch hier auf meinem Blog zu veröffentlichen.  


Farbenpracht und Trauerästhetik - Frühling auf dem Friedhof. Fotoimpressionen vom Heger Friedof in Osnabrück, aufgenommen im März 2017.  (Thomas-Achenbach-Fotos)

Der im Text erwähnte "Trauer-Chat" wird übrigens schon sehr bald ein neues Thema hier in diesem Blog sein. Und über das ebenfalls erwähnte Buch "Lebensstufen" von Julian Barnes hatte ich schon vor kurzem geschrieben.... Nun aber - das Geleitwort aus der Beilage "Rat und Hilfe im Trauerfall" im Wortlaut: „Immer wieder kommt ein neuer Frühling, immer wieder kommt ein neuer März...“ – heißt es in einem Kinderlied, das meine Tochter gerne singt. Und siehe da, es stimmt: Auch auf den Friedhöfen herrschen jetzt die bunten Farben vor, stehen Tulpen und Narzissen in den Pflanzschalen, legt die Beetbepflanzung das Winterkleid ab.


Passt denn Trauer überhaupt in die bunte Jahreszeit?


Und immer dann, wenn draußen die Welt wiedererwacht, erscheint diese Zeitungsbeilage mit dem Titel „Rat und Hilfe im Trauerfall“. Ein geeigneter Zeitpunkt? Darf man denn im Frühling überhaupt traurig sein? Oft werden die Verantwortlichen gefragt: Warum denn nicht im November? Wenn die „traurigen Tage“ das vorherrschende Thema sind. Die Antwort lautet: Nein, wir wollen ganz bewusst nicht in der „dunklen Zeit“ erscheinen. Warum denn auch? Auch die Verlustfälle selbst warten ja nicht darauf, dass der Sommer vorbei geht. Aber die Verunsicherung ist groß.


Die Beilage "Rat und Hilfe im Trauerfall" erschien in der Neuen Osnabrücker Zeitung (Thomas-Achenbach-Foto)  

Oft scheint es Menschen in einer Verlustkrise so, als sei es ihnen allein im November, in der Gräunis des ausklingenden Jahres, tatsächlich erlaubt, sich ihrer Trauer hinzugeben. Wohingegen im Frühling und Sommer die Gefühle unangebracht zu sein scheinen. Doch kaum etwas ist wohl trauriger, als sich auch noch in seiner Trauer einsam und unverstanden fühlen zu müssen (auch wenn das tatsächlich recht oft der Fall ist).


Ratschläge sind Schläge - besser zurückhaltend sein


„Rat und Hilfe im Trauerfall“ heißt diese Beilage – in der Ausbildung zum professionellen Begleiter lernen wir indes: Ratschläge sind oft auch Schläge.Darf man also Menschen in einer Verlustkrise einen Rat geben? Wenn sie nicht aktiv einen suchen: Nein. Zurückhaltung ist angebracht. Etwas anderes jedoch ist es, wenn sich Trauernde mit der Bitte um einen Rat an einen wenden. 


Darf man im Frühling traurig sein? Und sich trotzdem an schönen Blumen erfreuen? Fotoimpressionen vom Heger Friedhof in Osnabrück, aufgenommen im März.  (Thomas-Achenbach-Fotos)

So ist es Kai Sender, dem Verantwortlichen von Online-Trauer-Chats gegangen, wie er mir neulich berichtete – in einem Chat hatte ihn eine Dame gefragt: „Darf ich noch immer noch traurig sein nach so langer Zeit?“ Seine Antwort ist knapp, präzise und gut: „Na klar, er ist ja immer noch tot!“


"Tot heißt ja nicht, dass es jemanden nicht mehr gibt"


„Das können diejenigen, die diesen Wendekreis des Lebens noch nicht überschritten haben, oft nicht verstehen: Wenn jemand tot ist, dann heißt das zwar, dass er nicht mehr am Leben ist, aber es heißt nicht, dass es ihn nicht mehr gibt.“ Diese klugen Sätze schreibt der britische Autor Julian Barnes in seinem bemerkenswerten Buch „Lebensstufen“. Übrigens ein Buch, das auf nur wenigen Seiten hochpräzise alles über Trauer sagt, was darüber gesagt werden muss (mehr dazu - hier klicken).

Im Frühling trauern?.. - "Wann, wenn nicht jetzt?"


Und Kai Sender sagt: „Bitte keine Zurückhaltung in der Trauer. Vornehmes Zurücknehmen können wir uns leisten, wenn es uns gut geht. Aber in Zeiten der Trauer ist gesunder Egoismus angesagt. Wann, wenn nicht jetzt?“ - „Leid ist ein menschlicher Zustand, kein medizinischer,“ Auch diesen wunderbaren Satz finden wir bei Julian Barnes. Und das gilt eben auch – im Frühling."


Fotoimpressionen vom Heger Friedof in Osnabrück, aufgenommen im März.  (Thomas-Achenbach-Fotos)

---------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor des Buches "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag, 17 Euro, erschienen im März 2019. Mehr Infos gibt es hier.

Alle aktuellen Termine, Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare etc. mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

-----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Den Blog zum Anhören als Podcast - bitte hier klicken für die aktuelle Episode aus dem Trauer-ist-Leben-Podcast...

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatterbranche bewegen - was alles möglich sein kann, wenn Menschen in einer Verlustsituation das wollen

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde in einer Verlustkrise alles so tun und warum einem das nicht peinlich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was heute bei modernen Trauerfeiern alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

Ebenfalls auf diesem Blog: Wenn Töne und Texte die Seele ins Schwingen bringen, Teil #01: Serie über Trauer und Musik - die besten Songs und Alben über Trauer und Tod 

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link

------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen