Samstag, 25. März 2017

Das vielleicht beste Buch über Trauer, das je geschrieben worden ist: Wer "Lebensstufen" von Julian Barnes liest, versteht, wie es Menschen in einer Verlustkrise geht

Osnabrück - Das vielleicht beste Buch über Trauer, das je geschrieben worden ist, stammt von dem englischen Literaten Julian Barnes. Es ist deswegen ein so bemerkenswertes Buch, weil es auf nur wenigen Seiten und in nur wenigen Zeilen alles zu vermitteln versteht, was ich selbst in einer sich über 254 Stunden und über ein Jahr erstreckenden Ausbildung zum Trauerbegleiter habe lernen dürfen. Kein Sachbuch, sondern Literatur. Kein Ratgeber, sondern ein Erfahrungsbericht. Schmerzvoll, eindringlich, ungewöhnlich - und trotz aller Tragik einfach wunder-, wunderschön.

„Das können diejenigen, die diesen Wendekreis des Lebens noch nicht überschritten haben, oft nicht verstehen: Wenn jemand tot ist, dann heißt das zwar, dass er nicht mehr am Leben ist, aber es heißt nicht, dass es ihn nicht mehr gibt.“ Es sind Sätze wie diese, mit denen Julian Barnes seinen Leser tief hineinführt in die Gefühlswelt eines Trauernden. Es sind Sätze wie dieser, die verstehbar machen, wie es Menschen in einer Verlustkrise so geht - ein großes Verdienst dieses Werkes. Dabei beginnt das Buch ganz anders, als man es sich vorstellen kann.

"Lebensstufen" von Julian Barnes besteht aus zwei Teilen, die nur scheinbar nichts miteinander zu tun haben - vor allem der zweite Teil über die Trauer hat es in sich.    (Thomas-Achenbach-Foto)  

Denn Julian Barnes wäre nicht der Autor, der er ist, wenn er nicht auch dieses Buch - wie manch anderes - für ein Gedankenspiel genutzt hätte. "Lebensstufen" besteht aus zwei Teilen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben und die Barnes erst ganz am Ende geschickt miteinander zu verknüpfen versteht. Im ersten Teil des Buches geht es ums Ballonfahren. In schlaglichtartigen Episoden beschreibt Julian Barnes die Geschichte der Ballonfliegerei, lässt die Pioniere des Fliegens ihre Missgeschicke und Heldentaten erleben, lässt uns teilhaben an geschichtlichen Ereignissen. Unterhaltsam und farbenfroh. Wer das liest, der vergisst fast, dass man sich das Buch ja wegen eines ganz anderen Themas gekauft hat.

Und dann mitten hinein ins Leid


Dann kommt der Schnitt. Und im zweiten Teil des Buches geht es um den Tod seiner Frau und um seine Gefühle in den Zeiten der Krise. Anstatt eine distanzierte Autorenrolle einzunehmen und eine Romanfigur etwas erleben zu lassen, beschreibt Julian Barnes ganz ungeschönt sein eigenes Leben. Und was er da erzählt, ist genau das, was Trauernde so erzählen. Wie sich die Freunde und Verwandten teils von ihm abgewandt haben aus lauter Unsicherheit, wie sie mit dem Verlust umgehen sollen. Wie er die unausgesprochene Weigerung, mit ihm über seine tote Frau zu reden oder sie bei ihrem Namen zu nennen, als ihr stetiges Immer-wieder-aufs-Neue-sterben erlebt. 

Englisch, trocken, ironisch - da sitzt jedes Wort


Dabei wird Barnes niemals sentimental oder gefühlsduselig, sondern bleibt immer ein ganz trockener und ironischer englischer Gentleman. Seine Sätze sind präzise und messerscharf. Jedes Wort ist feinstens ausgewählt. Das macht das Werk so lesenswert.  "Leid ist ein menschlicher Zustand, kein medizinischer", sagt er an einer Stelle - und führt exemplarisch vor, wie menschlich dieser Zustand sein kann, wie tief er einen an die existenziellen Fragen des Lebens heranführt. 

Alles ganz normal: Was Trauernde Merkwürdiges tun


Wie normal es für Trauernde ist, immer wieder auch an den eigenen Tod in Form eines Suizids zu denken, weil der Wunsch des Nachsterbenwollens aufkommt. Wie normal es für Trauernde ist, mit ihren Toten zu reden, sie in imaginären und direkten Dialogen am Alltag teilhaben zu lassen oder um Rat zufragen. All das und mehr - insofern lohnt sich das Buch sowohl für Trauernde selbst als auch für alle Menschen, die mit ihnen umzugehen haben und nach einem guten Weg dorthin suchen. Übrigens: Natürlich ließe sich das Buch auch ohne den ersten Teil lesen. 

Wer macht die Realität? Der britische Schriftsteller Julian Barnes macht die menschliche Wahrnehmung zum Thema seiner Werke.  (Alan-Edwards-/f2-images-/Verlag-Kiepenheuer-Witsch-Foto, mit fr. Genehmigung).


Allerdings dürften dem Leser dann ein paar der im zweiten Teil benutzten Bilder, Ideen und Formulierungen ein wenig merkwürdig vorkommen, weil sie direkt aus den Ballonfahrer-Sequenzen entstammen. Das Credo seines Buches legt Julian Barnes gleich im ersten Satz fest: "Man bringt zwei Dinge zusammen, die vorher nicht zusammengebracht wurden, und die Welt hat sich verändert...." - das ist typisch für Barnes. Denn die philosophische Kernfrage, ob die Welt, so wie wir sie wahrnehmen, als wahr bezeichnet werden kann oder ob es unsere ganz eigene Einfärbung ist, die eine objektive Wahrheit verhindert, zieht sich durch sein gesamtes Werk. Sehr empfehlenswert in diesem Zusammenhang ist auch der Roman "Vom Ende einer Geschichte", der diese Frage höchst unterhaltsam durchdekliniert. Trocken, ironisch und bemerkenswert präzise, auch dort


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Der Autor dieser Zeilen steht in Osnabrück und im Osnabrücker Land als Trauerbegleiter zur Verfügung. Thomas Achenbach ist zertifizierter Trauerbegleiter nach den Standards des BVT (Große Basisqualifikation). 

Thomas Achenbach ist der Autor dieser drei Bücher: 

-> "Das ABC der Trauer - 77 Rituale und Impulse" (Patmos-Verlag)
-> "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" (Campus-Verlag)
-> "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut" (Patmos-Verlag)

Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Ebenfalls auf diesem Blog: Ist Trauerbegleitung ein echter Beruf? Kann man von Trauerbegleitung leben? Und wie werde ich überhaupt Trauerbegleiter?  

Ebenfalls auf diesem Blog: Macht es die Hinterbliebenen nicht noch trauriger, wenn wir sie auf ihren Verlust ansprechen? - Impulse bei großer Unsicherheit 

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum die Formulierung "Mein Beileid" immer noch das Beste ist, was Du einem Menschen mit einem Verlust sagen kannst

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie lange darf Trauer dauern? Ist es normal, wenn es jahrelang weh tut? Und ab wann wird trauern krankhaft?

Ebenfalls auf diesem Blog: Trauer und Schuldgefühle gehören zusammen - warum sich so viele Trauernde nach dem Tod eines Menschen schuldig fühlen

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde alles so vermeintlich "Merkwürdiges" tun und warum das nicht peinlich ist

Ebenfalls auf diesem Blog: Wie uns die Trauer vor Aufgaben stellt und was das für den Trauerprozess bedeuten kann - über die "Aufgaben der Trauer"

Ebenfalls auf diesem Blog: Entrümpeln, Ausmisten und Aufräumen nach dem Tod eines Menschen - was mache ich damit und warum ist das so hart?

Ebenfalls auf diesem Blog: Professionelle Gesprächsführung mit Menschen in einer Krise - was wir von der Spiegeltechnik fürs Leben lernen können

Ebenfalls auf diesem Blog: Wir sind auf dem Weg in eine Sterbegesellschaft - Zahlen, Fakten und Daten darüber, wir eine gute Trauerkultur brauchen werden  

Ebenfalls auf diesem Blog: Wer ein Kind verloren hat, sollte nicht arbeiten gehen müssen - was wir von einer britischen Rechtsprechung lernen können 

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Sonntag, 19. März 2017

Kreative Tipps für Trauernde - Sammeln Sie täglich ihre "Immerhins"... Eine simple, aber effektive Schreibmethoden für Menschen in einer Krise...- Denn es muss nicht gleich ein "Glückstagebuch" sein

Osnabrück - Sich jeden Tag darauf zu konzentrieren, was es an "Immerhins" gegeben hat, kann hilfreich sein. Ganz oft wird Menschen in einer Krisensituation (oder in jeder anderen Lebenslage) empfohlen, ein "Erfolgstagebuch" oder auch "Glückstagebuch" zu führen. Also: Jeden Tag das Gute oder Erreichte festzuhalten. Und auch wenn ich meine persönlichen Erfahrungen mit dieser Methode - trotz anfänglicher Skepsis - als bahnbrechend erlebt habe, kann ich gut verstehen: Für Trauernde ist dieser Sprung zu weit (Update 2020: In der Coronakrise gewiss auch). Aber es geht auch anders. Hier ein paar Tipps. 

Jedes Jahr am 20. März wird der "Internationale Weltglückstag" begangen. Ist das ein gutes Thema für einen Trauerblog? Glück und Trauer - sollte man das überhaupt zusammenbringen? Ist Menschen in einer Krisensituation überhaupt nach "Glück"? Vermutlich nicht. Muss auch gar nicht sein. Denn ganz o
ft reicht schon ein: "Dafür, dass..." Also: Ein Tagebuch zu schreiben und jeden Eintrag mit einem „Dafür, dass“ zu beginnen. Es ist die Autorin Barbara Pachl-Eberhardt - sie ist durch einen tragischen Unfall von einer Sekunde auf die andere zur Witwe sowie zur zweifach verwaisten Mutter geworden -, die in ihrem Buch "Vier minus Drei" diese wertvolle Empfehlung ausspricht. Das Geniale daran: Es wird zwar der gleiche Mechanismus benutzt, der ein "Glückstagebuch" so effizient macht (dazu später mehr), aber die Erwartungen und die Begrifflichkeiten werden viel niedrigschwelliger angesetzt. Das ist gut so und richtig so. In einer Trauerkrise ist jedes "Dafür, dass.." schon eine Menge wert. Und auch nicht immer leicht zu finden.

Ein leeres Buch, ein Stift und ein paar kleine Immerhins - kann was bringen....  (Thomas-Achenbach-Foto)

Manchmal kann so ein "Dafür, dass" auch gefolgt sein von dem Wort „immerhin“… Dann läst sich also beispielsweise ein Satz aufschreiben wie dieser: "Dafür, dass ich es derzeit fast gar nicht unter Menschen aushalte derzeit, habe ich es immerhin geschafft, einkaufen zu gehen..." Manchmal reicht auch ein zartes "Immerhin" anstelle des "Dafür, dass..." schon aus für einen Eintrag in dieses Tagebuch. Dass dadurch zu einem wirkmächtigen Instrument werden kann. Gerade für Trauernde. Warum das so ist? 


Der Trick dabei: Worauf Du achtest, das verstärkt sich


Wegen des psychologischen Tricks, den sich der Tagebuchautor - unbewusst - zunutze macht. Sich am Ende eines jeden Tages wenigstens drei Dinge notieren, die positiver gewesen sind als gedacht, hilft uns dabei, den Fokus zu verschieben. Es hilft dabei, den Fokus auf das Gute im Leben zu richten. Denn: „Beachtung bringt Verstärkung.“ So sagen es die Psychologen. Soll heißen: Das, worauf ich meinen Fokus richte, verstärkt sich dadurch automatisch selbst. 

Ein "Dafür, dass" als Frucht des Tages


Und so geht es: Man besorgt sich ein Buch mit leeren Seiten und einen Stift - oder einfach nur ein Blatt Papier. Am Ende des Tages lässt man, vielleicht vor dem Schlafengehen, das Erlebte in Gedanken noch einmal Revue passieren und notiert sich einfach alles, was besser gewesen ist als gedacht. Oder was anders gewesen ist als am Tag davor. Man sammelt alle "Immerhins" und "Dafür, dass"'s des erlebten Tages als die Früchte zusammen, die dieser Tag gebracht hat. Aber, und das ist das Wichtige: eben nur das. Das Schlechte bleibt einfach weg. Das Ganze ist also weniger ein Tagebuch als vielmehr eine Art Wahrnehmungsschule. Es hilft aber viel. Denn was dieses Training so effektiv macht, ist schnell gesagt: 

Eine Strategie gegen menschliche Programmierung


Es hebelt eine der menschlichsten Grundprogrammierungen aus, die seit Jahrhunderten in uns Menschen drinstecken. Nämlich die Fokussierung auf alles Negative. Evolutionstechnisch gesehen ist diesse Fokussierung überlebenswichtig: Wer einmal eine richtig schlechte Erfahrung gemacht hatte - zu lange dort gebadet, wo einen die wilden Tiere reißen können und nur mit Müh und Not den Bestien davongekommen -, der lernt dadurch besser. Seine Chancen auf Überlebe steigen also. Leider ist auch der moderne Mensch noch immer so gestrickt, dass er immer zuerst auf die negativen Seiten des Lebens sieht. Was heutzutage nicht mehr ganz so sinnvoll ist wie früher. Und so sind es vor allem die sehr vielen, sehr kleinen, aber irgendwie doch positiven Ereignisse des Tages, die viel, viel schneller, fast automatisch, in Vergessenheit geraten als alles andere. Einmal erlebt, ist es auch schon wieder aus der Wahrnehmung verschwunden. 

Wer nicht weiterkommt, dem helfen die Finger


Der Trick ist also, die Perspektive zu wechseln und diesen Wechsel dauerhaft zu trainieren. Sich die automatische Verstärkung der Wahrnehmung zunutze zu machen. Wer sich mit der konkreten Bewertung von Tagen schwer tut, dem hilft vielleicht eine kleine innere Checkliste, die man sich anhand einer Hand gut merken kann: D steht für Daumen oder für Denken/Lernen: Was habe ich heute Neues gelernt? Z steht für Zeigefinger oder Ziele: Bin ich heute meinen Zielen nähergekommen? M für Mittelfinger oder Mentalität/Motivation: Wann habe ich mich heute okay oder sogar gut gefühlt? Was hat mir gut getan? R steht für Ringfinger oder für Relationen/Ratgeber: Habe ich heute jemanden geholfen? Wurde mir geholfen? Hat mir jemand eine Freude gemacht? Habe ich jemandem etwas Gutes getan? 


Und nach dem Glückstag: Der Tag des Waldes


Und schließlich der kleine Finger für Körper: Was habe ich heute für meine Gesundheit getan? Habe ich mich bewegt, war ich spazieren, habe ich okay oder gut geschlafen, Sport getrieben? Gerade in akuten Krisen ist ein solches „Positiv-Training“ – wie ich es gerne nenne und seit 10 Jahren erfolgreich betreibe - hilfreich: Denn vor allem, wenn es einem gerade schlecht geht, ist es wichtig, das Gute an den Tagen herauszuarbeiten. Und sei es auch nur so etwas wie „Ich habe heute meine innere Unruhe ausgehalten“ - denn dann erst ahnt man, dass einem das vielleicht zukünftig wieder gelingen könnte. Oder wird. Dann ist der Weg zum Glück noch immer weit. Aber er lässt sich aktiver gestalten. Apropos: Jeweils einen Tag nach dem "Weltglückstag", also jeweils am 21. März, ist der "Welttag des Waldes". Vielleicht ein Anlass für einen Spaziergang an der frischen Luft (Update 2020: Solange wir wegen der Coronakrise noch keine Ausgangssperre bekommen haben)? Das könnte dann ein neues Immerhin werden... - und im Fall der Ausgangssperre lauschen wir halt den Vögeln draußen... Auch ein Immerhin.  

Ein paar persönliche Gedanken über die Coronakrise: Auch dieses ganz unnormale Leben in der Krise könnte uns einmal normaler vorkommen als wir uns das vorstellen

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an (bitte hier klicken). Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Der Podcast zu diesem Blog: Warum eine bayerische Behörde mit einer bislang einmaligen Initiative zum Vorreiter in Sachen Trauerkultur wird - ein Interview

Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und mit Trauer - was Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise hilft und was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum das Sterben in Deutschland seit Januar 2020 nochmal deutlich teurer geworden ist - Die so genannte Leichenschau steht in der Kritik

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatterbranche bewegen - was alles möglich sein kann, wenn Menschen in einer Verlustsituation das wollen

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was heute bei modernen Trauerfeiern alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

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Samstag, 11. März 2017

Liebe Arbeitgeber: In jedem Unternehmen sollte es eine Notfallmappe für Trauerfälle geben - nicht nur für akute Todesfälle, sondern vor allem für Mitarbeiter in einer Verlustkrise (Jahresthema Trauer in der Arbeitswelt/Trauer am Arbeitsplatz, Teil 2)

Osnabrück - Bei einem Kollegen aus der Abteilung ist die Ehefrau gestorben. Oder vielleicht sogar das Kind. Oder vielleicht ist sogar ein Kollege gestorben, der vor kurzem noch zum Team gehörte. Betroffenheit, Sprachlosigkeit und Fassungslosigkeit machen sich im Kollegenkreis breit. Und Unsicherheit. Viel, viel Unsicherheit. Dabei gilt auch bei Tod- und Trauerfällen im Arbeitsleben: Das an- und aufzunehmen ist erstmal Chefsache. Schwierig bloß, wenn die Führungskräfte auf solche Fälle nicht vorbereitet sind. Und wo sind sie das schon? Gehört die Trauer nicht ins Privatleben? Ja, schon? Aber hat nicht jedes Privatleben unmittelbar Auswirkungen auf die Arbeitsleistung? Was helfen kann, ist eine Notfallmappe mit Tipps, Anregungen und vor allem Regeln in solchen Fällen... 

Am Anfang war es die Handwerkskammer Koblenz, die diese Idee erstmals in die Öffentlichkeit brachte und einen gewissen Anspruch formulierte - auf Initiative des Palliativmediziners Dr. Martin Fuchs rief sie ein spannendes Projekt zum Thema Trauer in der Arbeitswelt ins Leben, das in einem weiteren Beitrag auf diesem Blog vorgestellt wird. Schon 2012 formulierte der Initiator Martin Fuchs in einem Artikel in der Zeitschrift "Leidfaden" (Ausgabe 3/2012, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht) zum Thema Trauer im Berufsleben: "Sinnvoll wäre es, ein Gesamtkonzept zu entwickeln, das bundesweit zum Einsatz kommt."


Wenn ein Mitarbeiter stirbt, bleibt vieles von ihm erhalten - in den Köpfen und Herzen der Kollegen. Was ist dann zu tun? Diese menschlichen Aspekte rund um Trauer und Tod lassen sich durchaus regeln.   (Pixabay.de-Foto/Creative-Commons-0-Lizenz)

Diesen Faden aufnehmend, halte ich es für besonders sinnvoll, eine Notfallmappe anzuregen, die in Unternehmen und Betrieben zum Einsatz kommen kann, wenn ein Trauerfall auftritt. Sei es ein gestorbener Kollege oder ein Mitarbeiter, der mit einem Todesfall im "vermeintlichen Privatleben" konfrontiert ist. Diese Idee ist nicht neu, sie ist auch nicht von mir. Es ist allerdings lange nichts mehr darüber geschrieben worden. Und ich habe mir erlaubt, die bisherigen Inhaltsanregungen um weitere Module zu ergänzen. Ich glaube, das passt so gut in die Zeit. Betriebliches Wiedereingliederungsmanagement. Betriebliches Gesundheitsmanagement. Betriebliche Gesundheitsförderung. Es tut sich derzeit so viel Wertvolles und Wichtiges im Bereich des Psychosozialen. Arbeitgeber sind offener für diese Themen als noch vor Jahren. Sie wissen: Wer gute Fachkräfte haben will, muss sich auch als sozial kompetent und als attraktiv erweisen. Nur das Thema Trauer hat bislang kaum einer auf dem Schirm. Dabei gehört es in ein betriebliches Sozialmanagement unbedingt mit hinein. Warum?


Trauer ist Chefsache - aber kaum ein Chef ist vorbereitet


Weil der erste Ansprechpartner immer der Vorgesetzte ist und immer sein wird. Oder globaler gesagt: Immer die Führungskräfte sein werden. Allerdings sind in den wenigsten Unternehmen - vermutlich in keinem Unternehmen (steile These)? - die Führungskräfte auf einen solchen Fall vorbereitet. Dann ist es hilfreich, wenn sie eine Notfallmappe des Unternehmens zu diesem Thema vorfinden könnten, die im Intranet hinterlegt ist oder die von der Personalabteilung ausgegeben werden kann.


Menschlich ist es ratsam - betriebswirtschaftlich auch


Sinnvoll ist das alleine schon aus menschlichen Aspekten. Es gibt allerdings auch eine betriebswirtschaftliche Komponente. So schreibt der Referatsleiter Gesundheitsförderung von der gesetzlichen Krankenkasse IKK Südwest, Wilfried Both, in einem Artikel der Zeitschrift "Leidfaden" (dito Ausgabe 3/2012): "Der Produktivitätsverlust durch den so genannten Präsentismus, also die nicht eingebrachte Leistung anwesender Mitarbeiter, ist laut einschlägiger Studien noch bis zu 10-mal größer als bei Fehlzeiten." Menschen in einem Trauerfall sind in der Regel sehr sensibel und hochemotional - sie wissen es daher zu schätzen, wenn man ihnen wertschätzend, offen und kompetent begegnen kann. Für Arbeitgeber ist das eine Chance, sich auch in diesem so schwierigen Segment gut aufzustellen. Und die Arbeitswelt ein wenig menschlicher zu gestalten.


Was muss alles in die Notfallmappe in Sachen Trauer?


Die folgenden Inhalte könnten beispielsweise oder in Teilen Bestandteile einer Firmenmappe über den Umgang mit Tod und Trauer sein, die folgenden Fragen sollten darin beantwortet werden:

- Basisinformationen über Trauer und darüber, wie sie wirkt
- (siehe zu diesem Thema auch die verschiedenen Beiträge auf diesem Blog)

- Telefonnummern für Beratung und Hilfsangebote (Trauerbegleiter, Seelsorge, etc.)
- Unternehmensinterne Regeln für den Trauerfall: Wer schreibt den Kondolenzbrief etc.?
- Formulierungshilfen und Anregungen für die Kondolenzpost (Keine Schablonen!)
- Textvorschläge für die Traueranzeige + Regelungen, wer sich darum kümmert
- Informationen und Anregungen zum öffentlichen Auslegen eines Kondolenzbuches 
- Informationen über die im Unternehmen geltenden sozialen Regeln bei Trauer
- Auszüge aus - sofern es einen gibt - dem sozialen Leitfaden des Unternehmens
- Rituale/"Best Practice Beispiele" aus der Vergangenheit: Gestaltete Trauerbereiche etc.
- Wie ist die Auflösung des Arbeitsplatzes zu gestalten? Wie die Abteilung einzubinden?
- Literaturanregungen für den Betroffenen, Liste von Büchern/Blogs zum Thema

Es mag sein, dass ein paar der oben angerissenen Ideen (Gestalten eines Trauerbereichs etc.) sich nicht von selbst erklären bzw. zurzeit noch ein wenig kryptisch anmuten - detaillierte Erläuterungen dazu folgen in Kürze in einem weiteren geplanten Beitrag auf diesem Blog zum Thema "Trauer in der Arbeitswelt/Trauer im Berufsleben - was Arbeitgeber tun können", in dem diese Ideen noch vertieft werden. Also: Bald mehr dazu. 

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Das Buch zum Thema: "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise" von Thomas Achenbach aus dem Campus-Verlag enthält viele Tipps und Anregungen rund um die Themen Trauer am Arbeitsplatz, Mitarbeiter in Pflegeverantwortung und mehr.

Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung) und bietet Podcasts rund um das Thema Trauer an. Thomas Achenbach ist der Autor der Bücher "Männer trauern anders - was ihnen hilft und gut tut", 168 Seiten, Patmos-Verlag und "Mitarbeiter in Ausnahmesituationen - Trauer, Pflege, Krise", 220 Seiten, Campus-Verlag. Mehr Infos auf www.thomasachenbach.de

Lesungen, Vorträge, Workshops, Seminare, Trauergruppen und mehr: Alle aktuellen Termine mit Thomas Achenbach finden sich unter diesem Link 

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Ebenfalls auf diesem Blog: Tipps zum Umgang mit Trauernden und mit Trauer - was Menschen in einer Trauer- und Verlustkrise hilft und was man Trauernden sagen kann 

Ebenfalls auf diesem Blog: Warum das Sterben in Deutschland seit Januar 2020 nochmal deutlich teurer geworden ist - Die so genannte Leichenschau steht in der Kritik

Ebenfalls auf diesem Blog: Die Kunden müssen die Bestatterbranche bewegen - was alles möglich sein kann, wenn Menschen in einer Verlustsituation das wollen

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde in einer Verlustkrise alles so tun und warum einem das nicht peinlich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Tango auf der Trauerfeier, die Trauerrede als Audiodatei - was heute bei modernen Trauerfeiern alles möglich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Der Fluch der Tapferkeit - warum es Menschen in der modernen Gesellschaft so schwer fällt Trauer als etwas Normales anzuerkennen

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Sonntag, 5. März 2017

Über das Tabuthema Suizid: In einer Radiosendung kommen "Angehörige um Suizid" aus der Region Osnabrück zu Wort - wird über das Thema in unserer Gesellschaft zu wenig gesprochen?

Osnabrück (eb) - "So wenig einen 'Mord' begeht, wer sich umbringt, so wenig 'frei' ist, wer in den Freitod geht", schrieb einmal Roger Willemsen. Auch in der Radiosendung "Tabuthema Suizid" des Deutschlandradios Kultur werden diese klugen Zeilen zitiert - und nicht nur das. Zu Wort kommen auch die Mitglieder einer Selbsthilfegruppe aus dem Raum Osnabrück: Nämlich die "Angehörigen um Suizid" (Agus). Zudem birgt die Sendung durchaus Diskussionspotenzial: Es wird in unserer Gesellschaft nicht offen genug über Suizid gesprochen, lautet eine der Thesen.

Die Sendung ist am 20. 2. ausgestrahlt worden und kann entweder auf der Internetseite des Deutschlandradios als Manuskript nachgelesen werden oder kann ebendort per Mausklick auf Button "Beitrag hören" auch angehört werden. In dem Beitrag werden auch alle (falschen) Vorurteile und Mutmaßungen angesprochen, denen sich die Angehörigen eines Suizidanten oft ausgesetzt sehen und die sehr schmerzhaft sein können. Beispielsweise der Satz: "In der Familie muss doch etwas schief gelaufen sein..."


Wenn die Verzweiflung groß ist und sich das Gedankenkarussell um den eigenen Tod dreht, gibt es kostenlose und anonyme Hilfe beispielsweise bei der Telefonseelsorge, die auch E-Mail-Beratung anbietet.   (Pixabay.de-Foto, Creative-Commons-0-Lizenz)

Als Journalist und Redakteur habe ich verinnerlicht: Mediale Zurückhaltung beim Thema Suizid ist immer geboten, weil man davon ausgehen kann, dass es den 1974 erstmals so klassifizierten "Werther-Effekt" gibt. Soll heißen: So wie sich seinerzeit nach Erscheinen des Briefromans "Die Leiden des jungen Werther" von Johann Wolfgang von Goethe die (zumeist männlichen) Leser in den Suizid stürzten - wie es die Romanfigur am Ende tut -, so ist davon auszugehen, ist sogar nachgewiesen, dass nach Medienberichten über einen Suizid selbiges geschieht. Konkret...: 


Fehlt es an einem "aufklärerischen Kurs"?


Je mehr darüber berichtet wird, umso mehr Nachahmer gibt es. So weit, so bekannt. Dass aber diese Zurückhaltung eine vielleicht nötige Debatte über das Thema erschwert, ist ein neuer Aspekt, der bedacht werden sollte. Die Empfehlung eines in der Sendung zu Wort kommenden Experten ist ein "analytisch aufklärerischen Kurs – nur so kann es einen angemessenen Umgang geben". Ganz unaufgeregt an das Thema heranzugehen, empfehlen in der Sendung auch betroffene Angehörige. Gerade sie wissen natürlich am besten: Wo soviele Emotionen im Raum sind, ist unaufgeregt nicht immer einfach.


Noch Jahre danach die Hoffnung: Ist nicht alles nur ein Irrtum?


Wie schmal dieser Grat indes ist, zeigte bereits 1981 die im ZDF gezeigte erwähnte fiktive Sendung "Tod eines Schülers" – der Anstieg an Selbsttötungen stieg nach Ausstrahlung messbar an. Der Radiobeitrag geht auch hierauf ein, ebenso wie auf die Gefühle der Hinterbliebenen, die oft noch Jahre nach dem Ereignis die Hoffnung in sich tragen, es könnte vielleicht doch ein Irrtum gewesen sein.


Suizidgedanken? Anonyme Hilfe gibt es auch per E-Mail


Die lohnenswerte Sendung soll nach Angaben der Pressestelle des Deutschlandradios Kultur noch bis Sommer 2017 online bleiben (6 Monate nach Ausstrahlung) - unter diesem Link lässt sie sich finden. - Wichtig: Wer tatsächlich an einen Suizid denkt und diese Gedanken nicht loswird, findet kostenlose und anonyme Hilfe z.B. bei der Telefonseelsorge unter 0800/1110111 - oder als E-Mail-Beratung über die Internetseite www.telefonseelsorge.de.

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Der Autor dieser Zeilen bietet Trauerbegleitung an in Osnabrück und im Osnabrücker Land an und hat eine Ausbildung zum Trauerbegleiter absolviert (Große Basisqualifikation gemäß des Bundesverbands Trauerbegleitung). Er hält auch Vorträge zum Thema Trauer und Umgang mit Trauernden. Mehr Infos gibt es hier

Ebenfalls auf diesem Blog: Keine Sorge, alles normal - was Trauernde in einer Verlustkrise alles so tun und warum einem das nicht peinlich sein sollte

Ebenfalls auf diesem Blog: Was soll nach einem Todesfall gefeiert werden? "Nur" der Todestag - oder auch noch der Geburtstag des gestorbenen Menschen?

Ebenfalls auf diesem Blog: "Sei doch bitte wieder normal" geht leider gar nicht - Trauernde brauchen langfristiges Verständnis ohne Ziele 

Ebenfalls auf diesem Blog: Zehn Tipps für einen hilfreichen Umgang mit Trauernden - für Angehörige, Freunde und Kollegen

Und im Kultur-Blog: Theater kosten den Steuerzahler einfach zuviel Geld... ist das wirklich so? Und woher kommt die Theatersubventionierung eigentlich?